S
ieh mich an und erkenne, daß ich nicht böse bin!Das war jetzt eine andere Stimme in Enricos Kopf. Ebenso deutlich wie die, die ihm Trost zugesprochen hatte. Die neue Stimme drängte, aber es war ein sanftes Drängen, fast einschmeichelnd.
Wie unter Zwang hob Enrico, der noch am Boden lag, den Kopf und blickte zu dem Schlund, der, eben noch dunkel, jetzt von einem weißen, klaren Licht erhellt wurde. In diesem Licht erkannte er eine schlanke Gestalt mit einem ebenmäßigen, milde lächelnden Gesicht.
Sie sah aus wie die Statue eines jungen Mannes, geschaffen von einem Bildhauer, der in seinem Streben nach Makellosigkeit etwas zu weit gegangen war. Nein, kein Mann, sondern ein Engel, korrigierte Enrico sich, als er die silbrig glänzenden Flügel bemerkte.
Die Gestalt im Licht war keine Statue, sondern etwas Lebendiges. Sie hob den rechten Arm und winkte Enrico mit einer fließenden Bewegung zu sich heran. Er stand auf und schwankte, fühlte sich seltsam schwach. Ihm war, als flösse die Lebenskraft aus ihm heraus. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen und bewegte sich auf das Licht zu. Nur unterschwellig registrierte er, daß sein Fuß nicht mehr schmerzte.
Plötzlich packte eine Hand seinen rechten Unterschenkel und hielt ihn fest. Enrico sah hinunter und blickte in das besorgte Gesicht seines am Boden kauernden Vaters.
»Du darfst nicht weitergehen, Enrico! Luzifer
darf keine Gewalt über dich erlangen!«
Enrico hatte Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. Die vielen
Stimmen in seinem Kopf, die lauter und lauter schrien! Und diese
seltsame Kraftlosigkeit, die von Sekunde zu Sekunde
zunahm.
»Wieso Luzifer?« fragte er matt. »Ist es nicht Uriel, der zu mir
spricht?«
»Uriel?« Entsetzen malte sich auf dem Gesicht seines Vaters.
»Welches Bild gaukelt der Dämon dir vor, Enrico? Sieh doch hin!
Erkennst du nicht seine schreckliche Gestalt?«
Enrico blickte zu dem makellosen Engel, der aus weißem, strahlendem
Licht zu bestehen schien. Je länger er ihn ansah, desto stärker
veränderten sich Gestalt und Gesicht, und aus dem reinen Licht
wurden wild lodernde Flammen.
Das Engelsfeuer!
Narben, wie von zahlreichen Kämpfen, bedeckten den eben noch
glatten Leib. Die Hände mit den schlanken Fingern verwandelten sich
in Klauen. Aus den gefiederten Flügeln wurden lederne Schwingen,
ähnlich den künstlichen, die Tommasio und sein Sohn trugen. Das
ebenmäßige Gesicht verformte sich, wies plötzlich Verwerfungen und
Beulen auf, wurde zu einer Fratze, so grauenhaft, daß Enrico sich
abwandte. Aber nun wußte er, daß er dem Bösen ins Antlitz geschaut
hatte.
Mit dieser Erkenntnis stand auch alles andere wieder deutlich vor
ihm. Er erinnerte sich an das, was vor zwei Jahrtausenden an diesem
Ort geschehen war. Damals hatte Larth versucht, mit Larthis und
Vels Hilfe das Engelsfeuer zu entfachen. Larthi und Vel hatten so
getan, als ließen sie sich auf seinen Plan ein. Aber in dem
Augenblick, als das Licht sich über dem Schlund manifestierte und
feste Gestalt annehmen wollte, hatten sie ihre ganz Kraft darauf
gerichtet, Larth in Flammen aufgehen zu lassen, so wie Larth es mit
seinem Vater getan hatte. Larth hatte Feuer gefangen, und dem, was
aus der Tiefe aufstieg, hatte die Kraft gefehlt, eine feste Form
anzunehmen. Es hatte sich gewehrt, die Erde hatte gebebt, und die
steinernen Geflügelten waren beschädigt worden, aber dann war das
vorher so helle Leuchten erloschen, und die Erde hatte Ruhe
gegeben. Larths Anhänger waren so verwirrt gewesen, daß sie Vel und
Larthi nicht daran gehindert hatten, den Tempel der Ahnen zu
verlassen.
Diesmal war Luzifer schon einen Schritt weiter, war im Begriff,
Materie zu werden. Dazu benutzte er die Kraft der vier Engelssöhne,
saugte sie, wie ein Vampir, in sich auf.
Enrico und Lucius hatten sich vorgenommen, die Gefahr, die vom
Tempel der Ahnen ausging, endgültig zu bannen. Dazu mußten sie
einen Schritt weitergehen als Vel und Larthi, mußten den letzten
Schritt wagen, den ein Mensch tun kann.
Lärm aus dem Höhlengang lenkte alle ab, und einer der Wächter
schrie: »Wir werden angegriffen!«
Ein neuer Gedanke kam Enrico. War es vielleicht nicht nötig, den
letzten Schritt zu tun? Konnten Tommasio und sein Sohn mit Hilfe
derer, die da in den Tempel eindrangen, vernichtet
werden?
Er sah seinen Vater an und wußte, daß dies nicht der richtige Weg
war. Irgendwann, vielleicht in zwanzig, zweihundert oder
zweitausend Jahren, würde wieder ein Anhänger Luzifers an dieser
Stelle stehen und das Böse beschwören. Nein, es mußte zu Ende
gebracht werden, bevor sie zu schwach wurden. Sie konnten nicht
sicher sein, ob sich ihr Vorhaben verwirklichen ließ, aber sie
mußten es versuchen!
Enrico erinnerte sich der Worte seines Vaters: Von einem Kampf der Engelsfürsten ist die Rede und
davon, daß sich der wahre Engelsfürst als Sieger erweisen
wird.
Es war an der Zeit, dem wahren Engelsfürsten, Uriel, zum Sieg zu
verhelfen!
Sein Vater und er nahmen einander bei der Hand und konzentrierten
sich mit aller Kraft auf die Nachfahren Luzifers. Sie selbst
spürten ein starkes inneres Brennen. Um wie viel stärker mußte es
bei den beiden Schwarzgewandeten sein? Zuerst fing Fabio Pallottino
Feuer, rasend schnell erfaßte es seinen ganzen Körper. Enrico und
Lucius sahen noch das Entsetzen auf Tommasios Gesicht, dann stand
auch der in Flammen.
Er breitete die Arme aus, als wolle er Luzifer um Hilfe anflehen,
und sah aus wie ein entflammtes Kreuz. Sekunden später waren sein
Sohn und er schon verglüht, nur Asche war von ihnen
übrig.
Das fratzenhafte Haupt inmitten des Engelsfeuers öffnete sein Maul,
und ein Schrei, wie ihn kein Wesen von dieser Welt ausstoßen
konnte, hallte durch den Felsendom. Enrico spürte den unbändigen
Zorn, der seinem Vater und ihm entgegenschlug.
Er war schwach, sammelte aber noch einmal Kräfte, als Lucius ihn in
die Arme schloß. Vater und Sohn blickten nicht zum Engelsfeuer,
sondern zu dem Engel aus Stein, in dem sie Uriel zu erkennen
glaubten, den Engelsfürsten.
Sie riefen ihren Ahnherrn um Beistand an, während sie sich selbst
entzündeten. Das Feuer sprang auf das gräßliche Wesen über, und
Luzifer saugte nicht die erhoffte Kraft von Vater und Sohn in sich
auf, sondern deren Tod. Enrico spürte keinen Schmerz, sondern nur
Zufriedenheit, als mit seinem Vater und ihm auch der gefallene
Engel erlosch.